Die Entwicklung eines Schulungsprogramms für Fachkräfte, die minderjährige und unbegleitete Flüchtlinge betreuen, ist Ziel des Projekts „4OneAnother“.
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Kind und Erwachsener gehen Hand in Hand

„4OneAnother“: Neue Studie zur Unterstützung unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter

24.02.2022 | Research
Das Forschungsprojekt „4OneAnother“ liefert erste Teilergebnisse in Form einer Studie, um ein umfassendes Schulungsprogramm zu entwickeln. Die Akkulturation und Integration unbegleiteter, geflüchteter Kinder soll dadurch entscheidend verbessert werden.

Das Forschungsprojekt wird von sechs Partnern aus verschiedenen europäischen Ländern mit der FH Kufstein Tirol als LEAD-Partner entwickelt und umgesetzt. Die Studie wurde mit Unterstützung des Erasmus+ Programms der Europäischen Union finanziert und dient als Grundlage zur Entwicklung eines umfassenden Schulungsprogramms, dass die persönliche Entwicklung von minderjährigen und unbegleiteten Flüchtlingen im Ankunftsland fördern soll.

Herausforderungen der Migration für Minderjährige

Für Kinder und Jugendliche stellt der Migrationsprozess vielfach eine besondere Herausforderung dar – insbesondere, wenn sie unbegleitet sind.  Sie haben ihre Bezugspersonen und ihre gewohnte Umgebung verlassen und müssen mit erheblich weniger sozialer Unterstützung zurechtkommen. Die zunehmende Anzahl der in Europa ankommenden unbegleiteten, minderjährigen Geflüchteten (UMFs) unterstreicht die Bedeutung, die Maßnahmen für den Schutz und die Unterstützung dieser spezifischen Zielgruppe während des Erwachsenwerdens besser zu verstehen und zu fördern.

Um den unbegleiteten Kindern und Jugendlichen die notwendigen Werkzeuge und Kompetenzen für ein erfolgreiches Leben zu bieten und sie in ihrer Entwicklung zu unterstützen, ist die Rolle der mit ihnen arbeitenden Fachkräfte von entscheidender Bedeutung: Mit diesen Bezugspersonen bauen sie als Erstes eine enge Beziehung auf als zentrale Begleitung. Deshalb ist es von besonderer Bedeutung, dass diese Fachkräfte über die notwendigen Fähigkeiten und Kompetenzen verfügen, um UMF-spezifische Bedürfnisse zu unterstützen und deren Entwicklung zu fördern.

Sozialarbeiter:innen, Pädagog:innen und Psycholog:innen müssen sich bei der Arbeit mit unbegleiteten Minderjährigen einer Vielzahl an Herausforderungen stellen, wie z. B. psychische und medizinische, soziale und kulturspezifische Gesichtspunkte sowie weiterführende Aspekte des Migrationskontextes im nationalen bzw. europäischem Rechtsrahmen.

Um die Bedürfnisse der Fachkräfte in ihren Betreuungstätigkeiten gezielt zu unterstützen, möchte das Konsortium dieses Projektes ein Schulungsprogramm entwickeln, dessen Ziel es ist, den Fachkräften die richtigen Instrumente zur Unterstützung der unbegleiteten Minderjährigen zu vermitteln, wie zum Beispiel:

  • bei administrativen Herausforderungen;
  • Anforderungen in der Bereitstellung psychosozialer Unterstützung in einem erfolgreichen Akkulturations- und Entwicklungsprozess;
  • beim Übergang ins Erwachsenenalter und auf ihrem Weg in die Unabhängigkeit (Wohnen, Arbeit, Bildung);
  • bei der Suche und Auswahl von Bildungswegen und Lernmöglichkeiten;
  • um Vorurteile und Ängste abzubauen, die um UMFs herum bestehen und dazu beitragen, ihre Akzeptanz in der Gesellschaft zu fördern (4oneanother.org).

Zur strategischen Entwicklung des Schulungsprogrammes war es notwendig, eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme und Evaluierung der Herausforderungen und möglichen Potentiale durchzuführen. Daraus entstand eine Studie, deren Ergebnisse nun erstmalig veröffentlicht werden.

Methodik der Bestandsaufnahme

Die qualitative Studie umfasste Interviews mit Fachkräften, die mit UMFs arbeiten, wie zum Beispiel Sozialarbeiter:innen, Psycholog:innen und Kulturvermittler:innen - abhängig von der Struktur des nationalen Aufnahmesystems. Darüber hinaus waren Bestandteil des Samples sowohl minderjährige UMFs als auch UMFs, die inzwischen 18 Jahre alt geworden sind. Mit ihnen wurden Interviews und Fokusgruppen durchgeführt. Die Daten wurden in Österreich, Belgien, Italien und Griechenland erhoben.

Die wichtigsten Ergebnisse der Erhebung

Die Ergebnisse dieser Recherche aus beiden Perspektiven, sowohl der Fachkräfte als auch der UMFs, bilden die Grundlage für die Entwicklung des Trainingsprogramms. Folgend werden die wichtigsten Ergebnisse der Erhebung zusammengefasst.

  • 179 Interviews mit Fachkräften
  • 122 Interviews mit UMFs
  • 11 Fokusgruppen mit UMFs

Rolle der Einführungsphase der UMFs im Akkulturations- und Integrationsprozess

Die befragten Fachkräfte betonten die Wichtigkeit  des Erstkontaktes bei der Ankunft und der im Anschluss folgenden längerfristigen Betreuungsphase, bei dem alle Informationen zum UMF gesammelten werden, um die bestmögliche Unterstützung des Minderjährigen zu gewährleisten. Laut Meinung der Fachkräfte fehlt zwischen diesen beiden so wichtigen Kontaktpunkten eine effiziente und persönliche Verbindung.

Herausforderungen und Sorgen der UMFs in den ersten Jahren nach ihrer Ankunft

Die Herausforderungen, mit denen unbegleitete Minderjährige in ihrem täglichen Leben konfrontiert sind, stehen teilweise im Zusammenhang mit ihren größten Ängsten. Die befragten Fachkräfte berichteten, dass die größten Herausforderungen die Integration in den neuen sozialen Kontext darstellen, in dem die UMFs leben, der starke Kontraste und Unterschiede zum bislang Gewohnten aufweist (z. B. Rolle der Frau, Alkoholkonsum, Meinungsfreiheit, usw.). Eine weitere große Herausforderung, die UMFs begleitet, ist die Überwindung von Stress, der sich aus der Entwurzelung der Herkunftskultur und den während der Flucht erlebten Erfahrungen ergibt. Daher ist die Unterstützung der Fachkräfte von grundlegender Bedeutung.

Die Interviews mit den Minderjährigen zeigten zudem die Herausforderungen, die die Minderjährigen in ihrem Integrations- und Sozialisationsprozess begleitet: Einige gaben an, sich nur mit anderen UMFs angefreundet zu haben – nur 31 der 122 Interviewten gaben an, sich auch mit Bewohnern der Gastkultur angefreundet zu haben. Die Ergebnisse zeigen einerseits das Trauma des Lösens der Herkunftsgemeinschaft, andererseits die Fähigkeit, die Beziehung zur Herkunftsfamilie aufrechtzuerhalten.

Schließlich ist eine der wichtigsten Herausforderungen für Minderjährige der Übergang ins Erwachsenenalter - in einem System, in dem viele der garantierten Rechte für Minderjährige (zumindest auf dem Papier) nicht mehr gelten, wenn sie volljährig sind.

Informationen über das Herkunftsland der UMFs und ihre Kultur und Bräuche

Die befragten Fachkräfte sind sich uneins, ob die Sammlung von Informationen zu Kultur und Brauchtum des Herkunftslandes jedes einzelnen UMFs wichtig sei. Eine Teilgruppe der Befragten ist von der Wichtigkeit allerdings überzeugt, vor allem hinsichtlich der Beantragung von internationalem Schutz als auch der Verbesserung des Akkulturations- und Integrationsprozesses, durch das Wissen um individuelle Bräuche und Traditionen.

Kulturelle Unterschiede

Fast alle UMFs gaben an, dass sie starke kulturelle Unterschiede zwischen ihrem Herkunftsland und dem Land, in dem sie aufgenommen wurden, wahrnehmen. Die meisten Minderjährigen - mit Ausnahme einiger weniger, die sich in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft gestresst fühlten - gaben an, dass diese Unterschiede für sie keinen Stress verursachten. In Bezug auf die Ausgrenzung gaben einige der befragten UMFs an, dass sie sich seit ihrer Ankunft in dem Land, in dem sie aufgenommen wurden, mindestens einmal diskriminiert gefühlt hatten, aber nur wenige von ihnen haben mit den Fachkräften der Aufnahmezentren darüber gesprochen. Die größten Diskriminierungsvorfälle ereigneten sich in Schulen, beim Sport und durch die Polizei.

Die meisten der befragten Fachkräfte gaben an, dass die unbegleiteten ausländischen Minderjährigen, denen sie folgen oder mit denen sie in Kontakt gekommen sind, Unterschiede zwischen ihrer Herkunftskultur und der Kultur des Aufnahmelandes wahrnehmen. Die Unterschiede werden nicht bei allen Minderjährigen gleich stark wahrgenommen, insbesondere in Bezug auf die Distanz zu sozialen Regeln und Traditionen, die zwischen Herkunftsland und Aufnahmeland bestehen.

Pflege der Heimatkultur

Auch aufgrund des sehr jungen Alters einiger UMFS ist die Pflege ihrer Herkunftskultur ein Aspekt, dem die Fachkräfte offenbar Aufmerksamkeit schenken, insbesondere indem sie versuchen, die Minderjährigen zu unterstützen, ihre Traditionen zu bewahren, zum Beispiel durch Beachtung des religiösen Kalenders, der Esskultur sowie durch die Förderung von Aktivitäten, in denen die Traditionen auch mit dem eigenen Umfeld geteilt werden.

Umgang mit Stress

Die positiven Strategien der UMFs wurden insbesondere identifiziert bei der Ausübung von Sport und der Beziehung zu Freunden, beim Ansehen von Filmen und Musikhören, im Gespräch mit der Herkunftsfamilie, mit Betreuer:innen oder Sozialarbeiter:innen und mit dem Imam. Interviewte Fachkräfte betonten, dass das Videospiel oder die Verwendung von Cannabis (deutlicher) eingeschränkt werden sollte, da sie zu Abhängigkeiten führen könnten.

Die Bewältigungsstrategien, die von Fachkräften, die in der Betreuung und im Schutz Minderjähriger tätig sind, am häufigsten genannt wurden, sind Abgrenzungen gegenüber der Außenwelt, manchmal Zuflucht suchen im Gebet, in Videospielen oder sozialen Netzwerken, beim Ansehen eines Films oder Hörens von Musik, das Pflegen von Freundschaften, auch durch die Ausübung von Gruppensport oder die Suche nach Unterstützung in der eigenen Herkunftsgemeinde oder -familie. In einigen Fällen sahen die interviewten Fachkräfte auch selbstverletzendes Verhalten, Drogen- und Alkoholkonsum sowie Suizidalität.

Vorhandene Strategien zur Förderung der Integration mit Minderjährigen im Gastland

Die mit der Aufnahme und dem Schutz von UMFs befassten Fachkräfte haben sich diesem Thema gegenüber sehr sensibel gezeigt. Insbesondere haben sie Teamsport als Strategie identifiziert. In den Mannschaften sind Peers mit ähnlichen kulturellen Hintergründen. Die Schule erweist sich einmal mehr als wichtiges Mittel, um die Entwicklung der UMFs aktiv zu unterstützen. Wie von einigen Fachkräfte hervorgehoben, spielen Schwierigkeiten beim Zugang zu Bildung eine äußerst negative Rolle.

Ebenso wird der Peer-to-Peer-Betreuung besondere Bedeutung beigemessen, die, wie von einigen Fachleuten hervorgehoben wurde, in einigen Fällen auf Initiative des Minderjährigen selbst zum Zeitpunkt der Ankunft in der Einrichtung oder der Schule erfolgt. In diesem Sinne zeigte sich, wie sehr die Gesellschaft von Gleichaltrigen, demnach die Peer-to-Peer-Unterstützung die UMFs und ihre persönliche Entwicklung beeinflussen.

Die Rolle eines multidisziplinären Teams unter den Fachkräften

Die Analyse zeigte, dass die meisten befragten Fachkräfte in multidisziplinären Teams arbeiten, die sich aus verschiedenen Disziplinen zusammensetzen, unter ihnen insbesondere Sozialarbeiter:innen, Ärzte und Ärztinnen, Psycholog:innen, Rechtsberater:innen und Pädagog:innen. Wenn weitere Fachkräfte benötigt werden, wird zumeist ein Netzwerk außerhalb des eigenen multidisziplinären Teams aktiviert, um die spezifischen Bedürfnisse der UMFs zu adressieren.

Eine wichtige Rolle spielen Vormünde, die das Team bei Entscheidungen, die das Kind betreffen, aktiv unterstützen. In den von einer hohen Zahl von UMF-Ankünften betroffenen Ersteinreiseländern kommt das System hingegen noch nicht effizient mit der Einbindung von oft erst später bestellten Fürsorgepflichtigen zurecht.

Fortbildung in interkultureller Kommunikation und Gender Mainstreaming

Die meisten der befragten Fachkräfte gaben an, dass sie keine Schulungen zur interkulturellen Kommunikation erhalten hätten, obwohl sie dies für äußerst wichtig hielten für einen korrekten Umgang mit Minderjährigen, der u.a. Stereotypisierungen vermeidet.

Viele der Befragten haben auch keine spezifische Schulung zum Thema Gender Mainstreaming erhalten, obwohl sie – wie fast alle, die spezifische Schulungen zu diesem Thema besucht haben – sie für sehr interessant und wichtig halten. Das Training könnte helfen die allgemeine Herangehensweise an Minderjährige zu verbessern und den persönlichen Entwicklungsweg Minderjähriger besser beurteilen zu können.

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